Menschwunden

Ab und an wäre ich gerne unsichtbar.

An und für sich ist nichts verkehrt an der sichtbaren Präsenz, hier und jetzt im Präsens. Das Separee der eigenen in sich gekehrten kleinen Welt, der meinen, linde angeleuchtet und bestrahlt. Nur die Anderen, sie stören von Zeit zu Zeit. Durchbrechen meine zerbrechliche Membran, bohren sich in den leise und behutsam gewobenen Kopfkokon und zertrampeln die weichen Fäden meiner Gedankenfasern. Fassen mir in die Sicht, erbrechen auf meine Bilder, betatschen Träume, treten nach Visionen, randalieren im Rosa und kacken in die Ecken meiner Wahrnehmung.

Die Sichtbarkeit des Seins schon Einladung genug, im Vorgarten meines Weltbildes zu wildern. Und als wäre eine Prämie für meinen Kopfinhalt ausgesetzt, fühlen sie sich bemächtigt und bemüßigt ihre Gegenwart genüsslich an meinem Dasein zu reiben, zu wetzen, mit spitzen Fingern an meiner Alltagshülle zupfend. Ich hülle mich in Schweigen, doch nur die Anwesenheit meiner Hülle reicht schon, um mich mit ihren dreisten Darbietungen zu drangsalieren.

Fremde Menschen schieben sich in meine Sicht und machen Mätzchen. Laut und fordernd, wo ich leise leidend nach Fluchtwegen suche. Wittern die Verletzlichkeit meiner Netzhaut und holen aus, um ihre Abgründe zu zeigen und meine Reaktion zu erhaschen, Emotion aus mir zu quetschen, ihre Provokation mit Entsetzten zu spiegeln.

Als wäre mir ein geheimes Erkennungszeichen zwischen die Brauen gepinselt, so dass die Wahnfriede und Irrhilden den perfekten Wegweiser für einen wilden Ritt nach Western City vor meiner Nase hätten und nur noch loszulegen bräuchten mit psychologisch nicht abbaubaren Sozialperformances. Die Selbstoptimierung der Unoptimierbaren, weil es nichts mehr zu verschönern, abzutrainieren, wegzuspritzen gibt, sondern nur das bare Sein als Bodensatz einer gesamtgestrafften Gesellschaft. Was bleibt ist die Bühne der Alltagsöffentlichkeit mit mir, dem gerngesehenen hochfrequenten Ehrengast.

Willkommen und hereinspaziert, zögern Sie nicht, setzen Sie sich, bitte gerne so nah, dass ich in den Makromolekülen Ihres fauligen, hochprozentigen Atems sitze. Und dann, ab dafür! Zahnlos gezischelte Beziehungsdramen mit einer Prise Dujardin vor meiner Nase? Bitteschön! Verbales Kindergegängel in 300 Dezibel und dramatischem Dialekterbrechen unter Verwendung von möglichst viel Fäkal im Satz und maximal wenig Grammatik? Aber gerne doch! Irrer Blick und nervöser Tempozerfetzertick drei Zentimeter vor meinem Gesicht und dann als ganz besonders erfrischende Zugabe kleine Taschentuchröllchen drehen und sich mit Gurrlauten in die vormals Mund gewesene Fressspalte stopfen? Mir eine Freude! In Jogging- aber ohne Unterhosen an der Ubahnstange die Kippe drehend, einen Ständer stehend, einladende Schnalzlaute aussondern und mich mit der wippenden Augenbraue auf eine Runde „Der geht aufs Haus!“ einladen? Setzen Sie sich doch!

Nicht das kollektive Elend verletzt meine seelischen Weichteile, aber eine mir abgenötigte visuelle Palpation von öffentlichen Menschwunden strapaziert meine Seele …

Die Beobachtung von mehr oder minder possierlichen Possen im tierischen Menschenreich wären so viel leichtlebiger in durchsichtig. Ein schlimmer Film, der zu ertragen schon eine schwere Bürde zu tragen wäre, aber dennoch keinerlei Reaktion abverlangte. Bilder, die man in irgendeine innere Ablage archivieren könnte, wo sie in Nichtbeachtung verblassen würden wie alte Fotoabzüge. Dialoge, die in Nichterwiderung einfach nur Monologe blieben. Ohne Wechselspiel keine Geschichte, nur eindimensionale Momente in Alben, nach und nach verpackt und milde lächelnd ins ausdruckslose Vergessen fortgetragen …